Sonntag, 29. Januar 2017

Wortgeschichte: Potemkinsches Dorf oder eine frühe Fake-News

Oh, those Russians, um hier gleich eingangs Boney M. zu zitieren und auf diese Weise  Grenzen und Jahrhunderte verschwimmen zu lassen: Der Begriff  Potemkinsches Dorf ist  heute zum Synonym geworden für alles, bei dem Schein und Sein differieren.  Schöne trügerische Fassade, aber nix dahinter.  Aber nichts gegen Boney M.

Die Legende: Der russische Gouverneur Potemkin  (oder Potjomkin) hat für eine Inspektionsreise der Kaiserin Katarina der Großen (genau, die von Anhalt-Zerbst)  entlang der Wegstrecke bemalte Kulissen  aufgestellt, um, äh, blühende Landschaften vorzutäuschen.

Die Wahrheit:
Potemkin war einer der besten russischen Politiker seiner Zeit, Katarina auch als Liebhaber verbunden und der Stratege hinter der Erschließung der damals als Neurussland bezeichneten Gebiete, die das Zarenreich in der Folge des russisch-türkischen Krieges  (1768-1774) zugesprochen bekommen hatte. Die Inspektionsreise gab es 1787 tatsächlich. Sie fand aber Gebäude vor, die solide bis großartig waren. Der Erfolg Potemkins bewirkte Neid und Geschwätz bei Hofe. Einiges davon kam Georg von Helbig zu Ohren, sächsischer Diplomat in St. Petersburg. Er  verwandte es für seine mehrteilige Potemkin-Biografie, die ab 1797 die  Hamburger Zeitschrift Minerva veröffentlichte. Die sensationelle Neuigkeit von den Scheinfassaden schien auch deshalb plausibel, weil Katarina II. ohnehin schon allerlei Schlechtes (und Unzutreffendes) über ihr Liebesleben nachgesagt wurde. Die Geschichte geriet in Umlauf, wurde ins Französische und Englische übersetzt und überall gern geglaubt. Die französischen Revolutionäre trauten dem Adel natürlich ohnehin vor allem Schlechtes zu  und auch andernorts war es amüsanter,  über Russland die Nase zu rümpfen statt anzuerkennen, dass das Land zu einer durchaus leistungsfähigen  Großmacht geworden war.

Die Moral: Fake-News  gab es schon deutlich vor der Erfindung des Internets.  Viel blinkender ist das postfaktische Zeitalter heutzutage aber schon.